Gedanken zum 30. Sonntag B (Mk 10, 46-52)

Christus schenkt dem Bartimäus das Augenlicht!

Liebe Schwestern und Brüder

„Rabbuni, ich möchte wieder sehen können.“ Das ist die offensichtliche Antwort auf die Frage von Jesus. Was könnte ein Blinder sonst noch erbitten? Das mag die einfache Antwort sein, aber es ist nicht immer die Antwort, die gegeben wird. Keiner will blind sein. Das ist nicht die Frage. Die tiefere Frage ist, ob wir wirklich sehen wollen. Wollen wir wirklich die Realität unseres Lebens sehen, die Dinge, die wir getan und nicht getan haben, wer wir sind und wer wir nicht sind? Wollen wir wirklich die Bedürfnisse unseres Nächsten, der Armen oder der Ausgegrenzten sehen? Wollen wir wirklich die Ungerechtigkeiten in der Welt sehen? Wollen wir wirklich sehen, wer Jesus ist und nicht nur den, den wir uns wünschen oder uns vorstellen, dass er so ist?

„Willst du wirklich sehen?“ Das ist die Frage, die Bartimäus beantworten muss. Wahres Sehen ist mehr als nur das Beobachten mit unseren physischen Augen. Es beinhaltet eine Beziehung und ein tieferes Wissen und Verständnis. Dies geschieht, wenn wir mit den Augen des Glaubens sehen. Dieses Sehen ist jedoch nicht ohne Risiko. Wenn wir wirklich sehen wollen, müssen wir bereit sein, uns zu verändern und verändert zu werden. Manchmal ist das Risiko zu groß. Wir verschließen die Augen und beschließen, nicht zu sehen. Hier geht es nicht um körperliche Blindheit. Es geht um einen geistigen Zustand. 

Für die meisten von uns ist das Leben weder ganz sehend noch ganz blind. Es gibt Zeiten, in denen wir es verstehen, und Zeiten, in denen wir es nicht verstehen. So war es auch für Bartimäus. Es war nicht immer Dunkelheit. Erinnern Sie sich: Bartimäus bittet darum, „wieder sehen zu dürfen“. Am Ende der Geschichte wird uns gesagt, dass er „sein Augenlicht wiedererlangte“. Es gab eine Zeit, in der Bartimäus sehen konnte. Es gab eine Zeit, in der er und die Welt von Licht erfüllt waren. Bartimäus hat Dunkelheit gekannt und er hat Licht gekannt. Er war sehend und er war blind. Beides ist eine Realität für Bartimäus und für uns.

Wie und was wir sehen, bestimmt die Welt, in der wir leben, und das Leben, das wir führen. Bartimäus weiß das. Er ist ein blinder Bettler. Er geht nirgendwo hin. Die Welt zieht an ihm vorbei, aber sein Leben bleibt unverändert. Jeder Tag ist derselbe. Er sitzt am Straßenrand, streckt den Mantel seiner Blindheit aus und bettelt. Es gibt keine Erleuchtung in ihm oder um ihn herum. Die Dunkelheit bedeckt ihn wie ein Mantel.

Diese Blindheit kann auf viele verschiedene Arten auftreten. Manchmal ist es die Dunkelheit der Trauer, des Kummers und des Verlusts. Sünde und Schuld machen uns blind für das, was unser Leben sein könnte. Ein anderes Mal leben wir in der Dunkelheit von Angst, Krankheit, Wut oder Groll. Zweifel und Verzweiflung können unsere Sicht verzerren und beeinträchtigen. Misserfolge, Enttäuschungen und zerbrochene Träume können unsere Welt verdunkeln. Es gibt Zeiten, in denen wir uns im Schatten verstecken und weder sehen noch gesehen werden wollen. Vielleicht ist die tiefste Dunkelheit, wenn wir uns in uns selbst verlieren und nicht mehr wissen, wer wir sind oder wie schön unsere Schöpfung und unsere Existenz sind. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Die Dunkelheit füllt und bedeckt uns auf tausend verschiedene Arten.

Ich weiß nicht, wie Bartimäus blind wurde. In gewisser Weise ist das auch nicht wichtig. Viel wichtiger ist, dass er wusste, dass er blind war. Er hielt seine Blindheit vor Christus aus, weil er glaubte und hoffte, dass es mehr gab als das, was er war und was sein Leben sein konnte. Aus diesem Wissen, Glauben und Hoffen heraus rief er: „Jesus, Sohn Davids, hab Erbarme mit mir“. Darüber hinaus nennt Bartimäus Jesus zweimal „Sohn Davids“. Der Blinde sieht in ihm den Messias, er schaut tiefer und erkennt ihn als den Gesalbten Gottes an. Dies ist der Schrei desjenigen, der sich Gott hingibt. Kein Wunder, dass viele ärgerlich sind und ihm befehlen, doch endlich den Mund zu halten. Nur einer nicht: Jesus. Er lässt sich nicht stören vom Geschrei, sondern er wird hellhörig. Und er nimmt den, der für die anderen nur eine Randfigur ist, in den Blick. Es ist der Schrei, der Jesus in seinen Bahnen hält. So sieht die Barmherzigkeit aus.

„Ruft ihn her“, sagt Jesus – und meint damit wohl: holt ihn vom Straßenrand weg – und stellt ihn in die Mitte. Mit diesem Ruf treffen die Tiefen der menschlichen Finsternis auf die Höhen des göttlichen Lichts, das Elend auf das Mitleid. Bartimäus steht vor Jesus. Jesus fragt ihn: „Was soll ich dir tun“? Das ist nicht nur eine Frage für Bartimäus. Es ist eine Frage für jeden, der jemals am Rande des Lebens gesessen hat, für jeden, der jemals in der Dunkelheit gelebt hat, für jeden, der jemals um das Leben gebettelt hat. Es ist eine Frage für Sie und für mich. Es ist eine Frage, die Jesus uns immer wieder stellt, immer und immer wieder. Es gibt keine universelle Antwort. Es gibt nur unsere Antwort zu dieser Zeit und an diesem Ort in unserem Leben. Die Antwort von morgen kann eine andere sein als die von heute.

Dies ist die Schlussfolgerung jeder Begegnung mit Jesus: Nachfolge. Der Evangelist  sagt uns, dass der Blinde, der nun sieht, Jesus auf dem Weg folgt. Eines der zentralen Themen im Markusevangelium ist die Nachfolge.  Markus erinnert uns schon in Kapitel 9 immer wieder daran, dass Jesus auf dem Weg war – dem Weg nach Jerusalem, wo er leiden, sterben und auferstehen wird.  Bartimäus scheint jedoch der ideale Jünger zu sein, als Markus seine Erzählung über die Jüngerschaft abschließt. Welche Schlussfolgerung würden Sie gerne in der Geschichte Ihrer eigenen Begegnung mit Jesus sehen?  Wollen Sie ihm auf seinem Weg folgen?  Amen.